Du liest mich also regelmässig. Aha. Aber weisst du: Das bin nicht ich, das sind manchmal Initialzündungen aus meinem Leben, die sich weiterspinnen. Tausend verfremdete Facetten meiner selbst, vielleicht nicht mal das. Das sind meist Tagträume, Bilder, die sich in den Alltag drängen. Alles Fiction, Darling. Und sowieso. Wer wäre ich denn, wenn es mich wirklich gäbe – so als solides, einheitliches Ich?
In Ausgabe 2/2015 der Philosophie-Zeitschrift Hohe Luft dreht sich alles um das Ich: „Warum es uns nicht gibt – und was wir daraus machen können“. Und da steht:
Die Vorstellung ist verbreitet, dass in jedem Menschen etwas Verborgenes stecke, das ihn ausmacht.
Natürlich erleichtert diese Vorstellung Vieles. Natürlich kann man sich so der mühsamen Last entziehen, verantwortlich für sein eigenes Leben zu sein. Denn da ist ja immer „etwas“ in einem drin, das die gleichen Fehler machen lässt, das „nicht anders kann“, das die eigenen Handlungen durch Genetik, Veranlagung und feststehendem Charakter legitimiert. Bullshit.
Es geht nicht mehr darum, wer oder was wir sind, sondern nur noch darum, was wir sein wollen. Die Tatsachen unseres Lebens liefern nur noch das Erzählmaterial, aus dem wir unsere Autobiografien basteln können.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich meine Zukunft schreiben könnte: Wie sähe diese aus? Und wie könnte die Geschichte ausgehen? Eigentlich mag ich ja keine Happy Ends, aber für mich würde ich eine Ausnahme machen.
Die neuen Möglichkeiten machen die Sache allerdings nicht einfacher. Es fehlen die Kriterien für die Selbsterfindung. Was zählt, ist nur noch die Originalität – dass man sein „eigenes“ Leben lebt und nicht das der anderen. Das „Projekt Ich“ wird zu einer orientierungslosen Irrfahrt.
Tja, momentan habe ich keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Eigentlich stehen mir alle Wege offen. Ich könnte alles werden und diese unglaubliche Weite von Möglichkeiten lässt mich elendlich erstarren. Nicht mal einen Babyschritt trau ich mich zu machen. Nicht mal einen klitzekleinen.
Nehmen wir Abschied von der Idee, irgendwo unser „wahres“ Selbst zu finden. Erproben wir Rollen und Masken, mutig und bedacht.
Nun gut, scheiss auf mein Ich, momentan gebe ich mich also ausschliesslich dem Phantasieren hin und wünsche mir, Neurochirurgin, FBI-Agentin oder Restauratorin zu sein. Ich möchte im Ausland leben und Huskys hüten und wohltätige Arbeiten ausführen. Und wer weiss, in welche Rolle es mich morgen oder übermorgen verschlägt. Ich hoffe, es hat etwas mit Raketen zu tun.